Vera Rothamel

2019
Paperfile #15
oqbo Raum für Bild Wort Ton, Berlin

Ein Plan- oder Graphikschrank, also das, was im Englischen paperfile heißt, ist im Kunstbetrieb jenseits musealer Sammlungen von Zeichnungen und Druckgraphik durchaus keine Seltenheit. Planschränke finden sich etwa in den Verwaltungs- und Nebenräumen von Galerien, Artotheken oder Kunstvereinen. Doch ist die direkte Nutzung durch die Öffentlichkeit nur im Ausnahmefall möglich. Die eigentliche Musik spielt ohnehin in den Ausstellungsräumen, in denen dann großformatige Gemälde, Skulpturen oder (Video)Installationen gezeigt werden. In der Regel sind es – in den kommerziellen Galerien – gerade auch diese Arbeiten, die das mehr oder weniger große Geld bringen, während die Zeichnungen in den Schubladen bisweilen eher den Status von preislich moderaten Beigaben besitzen. Das „Modell oqbo“, das dem Graphikschrank, in dem Zeichnungen zahlreicher KünstlerInnen auf mehreren Ebenen in Mappen gelagert sind, eine so prominente, ja sinnstiftende Rolle zuweist, ist eine andere, ganz besondere Sache. Sicherlich nicht ganz ohne Vorläufer: Zu erinnern ist an die seit einigen Jahren nicht mehr existierenden Galerie Völcker & Freunde in der Auguststraße 62, in der der Verfasser wohl im Jahr 2003 auf einen mit Zeichnungen moderner und zeitgenössischer KünstlerInnen bestückten, etwa hüfthohen Metall-Planschrank stieß, der nach den Vorstellungen des Galeristen Wolfram Völcker so etwas wie das Herzstück seiner Galerie sein sollte. Dazu angeregt wurde Völcker durch die Mitte der 1990er Jahre in Williamsburg/Brookyln gegründete Galerie Pierogi (www.pierogi2000.com), die als entscheidende Plattform ihrer Arbeit bis heute die Flat Files begreift, also Planschränke, die für Flachware jeglicher Art zum Behälter werden, der – wie bei oqbo - auch online durchstöbert werden kann. Zur Füllung der Schubladen dienen neben Zeichnungen, druckgraphischen Editionen und malerischen Arbeiten auch Fotografien. (Von 2006 bis 2008 war Pierogi übrigens in Leipzig in der ehemaligen Baumwollspinnerei mit einer Filiale vertreten.) Was den Projektraum oqbo, der übrigens ja auch noch in „bild“ (Ausstellungen), „wort“ (Vorträge und Lesungen) und „ton“ (Konzerte) kategorisierte Veranstaltungen realisiert, ganz sicher mit Pierogi verbindet, ist die Idee, die paperfiles als Speichermedium zu nutzen, das durch Austausch und Anreicherung mit völlig unterschiedlichen Arbeiten auf Papier von immer wieder neuen, unbekannten, bekannteren und im Kunstmarkt arrivierten KünstlerInnen eine permanente Aufladung erfährt. Jeder Planschrank bildet eine Batterie sui generis – um es ein wenig im plastischen Geist von Joseph Beuys zu sprechen, dessen skulpturale „Fond“-Arbeiten mir hier besonders in den Sinn kommen. DieDie in den paperfiles gespeicherte Energie in Form künstlerischer Kreativität erfährt derjenige, der sich die Zeit nimmt, wenigstens eine Schublade auf ihren Inhalt hin zu erkunden und auf diese Weise in Format, Papier und Technik durchaus unterschiedliche Papierarbeiten ohne trennenden Rahmen aus nächster Nähe zu erleben. Dies setzt bei den Nutzern von paperfile eine gewisse Muße und Aufmerksamkeit voraus. Ein schneller Blick, mit dem sich etwa die Werke in einem Ausstellungsraum abtasten lassen, ist nicht möglich beziehungsweise sinnvoll. Achtsamkeit und Entschleunigung, um es modisch zu labeln, sind eindeutig von Vorteil. Doch deren Einsatz rentiert sich: Je mehr man sich, die Hände in weiße Handschuhe gehüllt, in die erst einmal unbekannten Schätze (oft kleinformatige ästhetische Sprengsätze sui generis) in den Schubladen vertieft, indem man diese aushebt und ans Licht bringt, desto mehr vergisst man Zeit und Raum um sich herum – auch wenn viele der Zeichnungen auf ihre Art von Zeit und Raum, von Körper und Sehen handeln. Und neues Sehen lehren. oqbo versteckt dabei seine Planschränke nicht im stillen Kämmerlein, sondern geht immer wieder dahin, wo es laut und rummelig sein kann und konzentrierte Kunstbetrachtung scheinbar nicht so leicht gelingt: Auf die Kunstmessen. Gerne erinnere ich mich an die Präsentationen 2012 auf der Kunstmesse Preview in einem der großen Hangars des ehemaligen Flughafen Tempelhof. Im Kontext der Kojen und Stände stellten die tischhohen paperfiles einen Ruhepol dar, markierten einen Ort der Konzentration. Dabei eröffnen sich – ob in der Brunnenstraße oder auf Reisen – mit jeder Schublade neue Perspektiven auf die gegenwärtige Zeichenkunst nicht nur in Berlin, die auf diese Art und Weise eine offene Plattform bekommt, wie sie der Kunstbetrieb ansonsten nicht bieten kann. Daher sind – in Namen der Zeichnung und ihrer Verbreitung als autonome Kunstform – oqbo und seinen papierfiles noch viele Jahrzehnte des Wirkens zu wünschen! Dr. Andreas Schalhorn (Kurator für zeitgenössische Kunst am Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin)