Vera Rothamel

Bilder: Bilder im Raum

Bilder im Raum

Urs Bugmann, Text zur Ausstellung in der Kornschütte Luzern, 03.05.2018

Wir sind mittendrin: in den Farben, in den Formen. Wir sind im Bild. Zwischen Orange und Rot, zwischen Gelb und Grün. Zwischen Flächen, auf Folien gemalt mit einmal ruppigen, einmal ruhigen breiten Pinselstrichen. Rhythmisch in wechselnde Richtungen ausgreifend, in der Horizontalen, in der Vertikalen die grossen Formate füllend in abgebrochenen, neu ansetzenden Flecken und Reihen. Wir sind mitten drin zwischen den Farbfeldern, die Räume begrenzen und weiten. Zwischen in Linien ausfliessenden Farblachen, die im Ausschütten der Farbe, im Bewegen des durchsichtigen Farbträgers entstanden sind. Unter die Deckenbalken gehängt, lassen die glasklaren Folien die Farbzeichen scheinbar frei im Raum schweben, als hätten sie keinen Halt, als verweigerten sie sich einer festen Form und liessen sich nicht festhalten.

Aus Überlagerungen entstehen Bilder: Erstarrte Linien, die noch immer zu fliessen scheinen, schieben sich vor bewegte Flächen, drängen die Farbfelder in den Hintergrund, setzen die Farben zueinander in Bezug, akzentuieren als Zeichen die Farbakkorde, die Kontraste. Sie werden ihrerseits wieder verdeckt, tauchen auf, treten zurück. Das sind keine starren Bilder, mit denen wir es hier zu tun haben, es sind Bilder, die immerfort entstehen und sich verwandeln. Es sind auch keine Bilder in den nur zwei Dimensionen einer Fläche, es sind Bilder im Raum, es sind Bilderräume, die sich bilden und umformen.

Vera Rothamel hat hier die Kornschütte mit den Elementen von Farbe und Form umgestaltet in eine Bildermaschine. Eine Maschine, die sich nicht von selber in Gang setzt. Es sind unsere Blicke, die aus den Farben und Formen die Bilder entwickeln, und es sind unsere Bewegungen durch den Raum, die ihn aufschliessen und eingrenzen, während wir die Blickachsen suchen und verändern. Einmal mit dem Fluchtpunkt auf einem Rot, dann wieder auf einem Gelb, mit einem ausfliessenden Linienwerk vor einem Grün, einer grün auslaufenden, mit Hilfe des Zufalls sich auf unsichtbarer Fläche formierenden Farblache vor einem Orange mit seiner unverkennbar aus Pinselbewegungen entstandenen Struktur. Die Farbe füllt die Fläche in der Art eines Ornaments und verweigert sich zugleich dem regelhaften Rapport, zeigt Mass und Muster zugleich mit ihrer Negierung, dem Gegenbild einer freien Rhythmik, die sich an Regelmass und Raster dennoch orientiert, indem sie die einzelnen Pinselbewegungen in ein austariertes Verhältnis zur Fläche, zum Ganzen setzt.

In diese Bildermaschine hinein, die im übrigen rein gar nichts mit einer mechanischen Vorrichtung zu tun hat, die nur vorbestimmte oder gar vorprogrammierte Ergebnisse ermöglichen würde, setzt Vera Rothamel einzelne Bilder und Lithographien. Das kann man als Anleitung zum eigenen Umgang mit diesem künstlerischen Raum aus hängenden Farben und Formen nehmen. Im eigenen Sich-Bewegen zwischen den Elementen, im eigenen Suchen und Finden von Blickwinkeln und Sichtweisen, im Erstaunen über sich öffnende Bildräume, sich einstellende Bezüge, entsteht eine Vielzahl von Bildern, wie sie die Künstlerin als fixierte Ergebnisse ihres Schaffens in Rahmen und hinter Glas setzt.

Das ist das Besondere an dieser Ausstellung: dass sie uns in Vera Rothamels Bilder hineingehen lässt und dass sie uns dazu auffordert, aus ihren Farb- und Formvorgaben durch die Bewegungen im Raum unsere eigenen Bilder entstehen zu lassen. Nicht nur erfahren wir dadurch, wie Farben und Formen in ihrem Zusammenspiel wirken. Wir lernen sehen, das heisst, wir erfahren, was wirkliche Wahrnehmung heisst: Ein Offensein für das Unerwartete, ein Zurücklassen der eingefahrenen Sehgewohnheiten, ein Dagegenhalten der Aufmerksamkeit für Bezüge, für Veränderungen. Verblüffung und Staunen sind es, was uns umtreibt, wenn wir uns auf diesen Bilderraum einlassen, wenn wir Vera Rothamels intuitive und frei nutzbare Bildermaschine in Gang setzen.

Die Wahrnehmungserfahrung in dieser Installation, diesem Raumbild und Bilderraum, lässt uns auch die gerahmten, ins kleinere Format reduzierten und festgesetzten Malereien und Lithos von Vera Rothamel neu und anders sehen. Denn jenseits der Möglichkeit, sie als Anleitung, als vorgegebenes Beispiel für die Ergebnisse zu betrachten, die sich aus frei verfügbaren Formen und Farben schaffen lassen, wecken der Raum und unsere Durchgänge und Bewegungen darin das Bewusstsein, dass, was in der Fläche festgesetzt ist, auch seine Tiefe hat. Wir sehen, dass der Blick auf ein Bild nicht nur die Oberfläche zu erreichen vermag, sondern finden auch Wege in die Schichten hinein, in die Bildwerdung, die, sei es aus der Bewegung des Denkens oder des Formens, in der äusseren Gestalt eines Bildes an ihr für diesmal festgesetztes Ende kommt. Derart einen Bildraum zu ergründen, wie es der Durchgang durch die Folien hier in dem grossen Raum mit aller Leichtigkeit erlaubt, heisst, sich im genauen Hinsehen zu fragen, wie der mit leicht hingetupften Pinselstrichen gemalte Farnwedel zu einem Bild geworden ist, wie dieses Bild unser Sehen bestimmt, wie es auf unser Empfinden, unsere Vorstellungen und unsere Erinnerungen trifft – und sie verändert. Oder welche Beziehungen, Kräfte, Gefühle und Gedanken in einer abstrakten Malerei wirken, in der sich neben amorphen Farbflecken Anklänge an pflanzliche Formen finden. Unser Sehen wird zum Fragen, in welchen Rhythmen, Akkorden und Kontrasten die Bildelemente zueinanderstehen, was ihr Zusammenspiel bestimmt.

Dieser Bilderraum als Raumbild, dieses Raumbild als Bilderraum ist eine Schule des Sehens, die unsere Wahrnehmung formt und erweitert. Sie gibt uns einen faszinierenden Einblick in das Schaffen von Vera Rothamel. Und dies ganz ohne aufdringliche Didaktik und Belehrung: Es ist eine Schule aus Selbstverständlichkeit und – dies vor allem – Unmittelbarkeit. Was wir hier erfahren, wenn wir uns mit offenen Augen mitten in diese Bilderwelt hineinbegeben, das ist die Freude des Wahrnehmens als eines wirklichen, für jede Verwandlung und Veränderung offenen Sehens und allem Nachdenken und Erkennen voraus erleben wir eine höchst sinnliche Lust an Farben und Formen. Lassen Sie sich darauf ein!