Vera Rothamel

Vera Rothamels Lithografien

Sabine Arlitt, 15.07.2012

Zum folgenreichen Abenteuer wurde die intensive Auseinandersetzung Vera Rothamels mit der alten Technik der Lithografie in der Druckwerkstatt von Thomi Wolfensberger in Zürich. Die Begegnung mit dem kreativen Drucker war für sie ausgesprochen anregend. Nach ihren ersten eigenen Lithografien erfuhr ihre Malerei eine augenfällige Veränderung. Gebrochene Farben hielten nun mehr und mehr Einzug in ihre Malerei. Die Farbkombinationen wurden dynamischer und die Hell-Dunkel-Kontraste stärker hervorgehoben. Licht- und Schattenfarben entwickelten sich zu prominenten Rollenträgern. Die geschichtete Staffelung verschiedener Bildebenen wandelte sich zu einer stärkeren Betonung eines mosaikartigen, spannungsvollen Nebeneinanders.

Beim Flachdruck liegen die druckenden Teile auf gleicher Höhe wie die nicht druckenden. Die Lithografie ist ganz flach, mikroskopisch klein sind die Unterschiede zwischen den einzelnen übereinander gedruckten Schichten. Das Steindruckverfahren sendet ganz eigene Farbimpulse aus und ist voller Überraschungen, gerade was den Reichtum an Mischtönen anbelangt. Nie kann exakt vorausberechnet oder genau vorausgesehen werden, wie sich die übereinander gedruckten Farben verhalten werden. Vera Rothamel sah es als besondere Herausforderung an, stets über die ganze Fläche denken zu müssen. Faszinierend fand sie zudem, dass nichts verloren gehe, nichts, wie in der Malerei, durch Übermalen verschwinden würde. Jeder Druck repräsentiert ein Stadium in einem Bildprozess. Zudem folgt im lithografischen Prozess die Farbe stets der von ihr getrennt auf dem Stein angelegten Struktur.

«Interpretation einer Struktur» heisst eine vierteilige Lithografiereihe von Vera Rothamel, die aus einem fotografierten Detail eines ihrer Gemälde hervorgegangen ist. Über den faktisch vorhandenen, von blossem Auge in seiner Feinstruktur nicht erkennbaren Gemäldeausschnitt, den Vera Rothamel als digitale Makroaufnahme gleichsam in die Sichtbarkeit zieht, lenkt sie mittels Technik die Aufmerksamkeit auf eine strukturelle Ebene der Organisation von Wahrnehmung. Die digitale, im RGB-Farbsystem gespeicherte Makroaufnahme wandelte sie am Computer in einzelne Farbauszüge für den geplanten Druckprozess um. Ein Wechsel von einem additiven zu einem subtraktiven Farbsystem wird nötig. Ein Wechsel vom RGB- Farbsystem in das CMYK-Farbsystem. Die vier erhaltenen Farbkanäle jedoch, definiert als Graustufen, wird sie nicht für die üblichen Druckfarben Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz nutzen, sondern ihnen eine freie Farbwahl zuordnen. Sie reproduziert keine farbige Vorlage, sondern entzieht ihrer Makroaufnahme die Farbe, um die freigelegte, gleichsam herausgefilterte, Struktur in neuem Farbkleid erscheinen zu lassen, sie farblich neu zu interpretieren. Auch wandelt sie mit Hilfe des Verfahrens der Frequenzmodulation den periodischen, streng geometrischen industriellen Raster mit unterschiedlich grossen Rasterpunkten in einen freier strukturierten Raster um, wobei kleine Punkte gleicher Grösse entlang einer Dichtefunktion zufällig gestreut werden. Die frequenzmodulierte Rasterung weist eine ähnliche Struktur auf wie der Lithostein oder ein analoger Film mit seiner Körnigkeit. Ablösung von und Erinnerung an das Trägermaterial treten gleichermassen ins Bewusstsein.

Für das Gemachte der Illusion und für die Bedingungen des Zeigens interessiert sich Vera Rothamel als Malerin. Ihre Bilder füllen sich mit Anschaulichkeit, verweigern sich jedoch schlüssiger Nachvollziehbarkeit. Die Farbströme in den lithografischen Blättern elektrisieren geradezu den Blick, der in ein Entwicklungsbad hineingerissen wird. Kleine Partikel reissen sich los, wagen den Zeilensprung. Neue Farben mischen die Kanäle auf. Wie in einem angehaltenen Phasenbild herrscht für den Moment ein möglicher Verfestigungszustand. Das Oberflächengeschehen löst Assoziationen aus, Assoziationen, die aus der Erinnerung nach oben drängen. Eine beinahe halluzinatorische Gestimmtheit geht mit der flirrenden, intensiv lichthaltigen Farbigkeit einher. Der Wellengang evoziert auch ein psychisches Fliessen. In Makro- und Mikrobereiche scheint die imaginäre Reise gleichzeitig zu zielen. Endlos fliesst der Datenstrom. Der Quellpunkt liegt ausser Sichtweite. Moduswechsel und Modusüberlagerung ereignen sich: ¬analog – digital – analog; eine neue Realität wurde geschaffen, potentielle Wirklichkeit. Als ob die Lithografien sichtbar mit sich führten, was an Informationen in sie eingeflossen ist und welche Transformationen stattgefunden haben. Alles gleichzeitig, alles verwoben ineinander, vermischt. Die Eindrücke überschlagen, verdichten und relativieren sich. Alles ist bildhaft greifbar als simulierte Repräsentation, wahrnehmbar gemacht für den Augensinn unter Berücksichtigung seines körperlichen Eingebundenseins. Als imaginierte Frottage meldet der Stein seine Präsenz an. Dabei wird Analogie als Katalysator für das Nachdenken über Differenzen wirksam.

Vera Rothamel spielt die drucktechnischen Möglichkeiten der Lithografie samt ihrer unplanbaren Überraschungen aus, um im Wechsel der eingesetzten Farben ein und dasselbe ganz unterschiedlich, vieldeutig, in Erscheinung treten zu lassen. Verblüffend der nach einem komplexen Prozess der Transferierung im vergleichenden Zusammenspiel der vier bildträchtigen Zustandsweisen ausgelöste Effekt. Jeder Farbwechsel zieht eine andere Sichtbarkeit nach sich. Was sich gleichsam anschickt, ansichtig zu werden, wird im Nebeneinander der vier Lithografien verstärkt als Potentialität wahrnehmbar. Die lithografischen Blätter, auf deren Papier sich die Farbe niedergelassenen hat und in das sie eingedrungen ist, sind Erzeugnis und Erzeugendes gleichermassen. Sie erzeugen eine imaginäre Malerei und imaginieren Malerei. Als Ganzes betrachtet, die Brücke vom Ausschnitt des Bildträgers hin zur transformierten Rastererscheinung spannend, scheint das lithografische Projekt geradezu das, was ein Bild ausmacht, in modellhafter Auffächerung ansichtig werden zu lassen. Gottfried Boehm schreibt, dass man das Aufsteigen eines Bedeutungshaften aus materiellen Substraten als die Urszene des Ikonischen beschreiben kann.1 Und er verweist auf die entscheidende Bedeutung der qualitativen Transformation. «Tatsächlich: ohne diesen Transfer, ohne den Übergang vom Faktischen zum Effekt, ohne diesen Akt käme Ansichtigkeit, das heisst ein Bild, niemals zum Vorschein. Es ist seiner Struktur nach nicht Realität, sondern Realisat.» 2

Vera Rothamel ist keine Theoretikerin, doch gerade als Künstlerin reagiert sie voller Neugier auf wissenschaftliche Entdeckungen, die das Bild von der Welt verändern. Was der Biologe François Jacob über die Biologie sagte, kann im Grundgedanken auf ihr intuitiv-konzeptuelles Vorgehen als Malerin übertragen werden. «Die Biologie», so Jacob, «versucht nicht, das Unbekannte mit dem Bekannten zu erklären, wie es bestimmte mathematische Beweise vorsehen. Sie erklärt das, was sie beobachtet, mit den Eigenschaften von Strukturen, die sie sich erst vorstellt, aber noch nicht kennt. Sie versucht, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren zu erklären, und gelangt durch die Fortentwicklung des Unsichtbaren, unter Zuhilfenahme neuer, noch verborgener Strukturen, zu neuen hypothetischen Eigenschaften.»3

Für das Projekt «Interpretation einer Struktur» hielt Vera Rothamel, wie weiter oben beschrieben, einen Ausschnitt eines eigenen, im Zusammenspiel von Zufall und Setzung realisierten Gemäldes fest. Bereits dieses grundlegende Vorgehen thematisiert eine Veränderung der Wahrnehmung durch den Anteil unkalkulierbaren Potentials der von aussen einfliessenden Informationen. Angetrieben vom Gedanken der Selbstähnlichkeit beziehungsweise einer Art gebrochener Selbstähnlichkeit setzt sie mit der eigenen Malerei den Startschuss, nimmt sie die eigene Malerei als Ausgangspunkt, die sie jedoch gleichsam in ihrer innersten Struktur als unsichtbar erklärt, um ihr neue Möglichkeiten des Erscheinens zu entlocken. Mit der abfotografierten Struktur hat sie das Ausgangsmaterial erhalten für ihre Suche nach Strukturen, «die sie sich erst vorstellt, aber noch nicht kennt». Mit unterschiedlichsten Mitteln der Technik und durch den Gang durch unterschiedlichste Medien hindurch versucht sie gleichsam verborgenen, ungesehenen Möglichkeiten zu einem Auftritt zu verhelfen. Die faktische Struktur wird zum weithin losgelösten Rechenmaterial für neue Inszenierungen und experimentelle Eingriffe. Allein schon das fotografische Auge bringt Unschärferelationen ins Spiel. Im Zuge von Grössen- und Massstabsveränderungen verschiebt sich die formale und damit potentiell sinnstiftende Gewichtung. Verschiedene Farbsysteme, verschiedene Rasterungen und die Verwendung eines Zufallsgenerators würfeln die Sehdaten neu zusammen. Dann der Entscheid, neue Farben zuzulassen und sich im lithografischen Prozess von einer Farbigkeit mit unabsehbaren Farbimpulsen überraschen zu lassen. Die mit Abwandlungen einhergehende Wiederholung einer Struktur hat gleichsam das Material der Malerei transformiert. Sehen wird zum Fliessen in Heterogenität und Formlosigkeit bei struktureller Verbundenheit.

>1 Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, bup, Berlin University Press 2010, S. 124

>2 oben zitiert, s. 125

>3 Lamberto Maffei; Adriana Fiorentini, Das Bild im Kopf. Von der optischen Wahrnehmung zum Kunstwerk, Birkhäuser Verlag, Basel >1997, S. VIII