Vera Rothamel

Fluid, eine lithografische Edition von Vera Rothamel

Katrin Bettina Müller, Fluid, 18.03.2024

“, eine lithografische Edition von Vera Rothamel Vertrauen, Neugierde, Offenheit und Erfahrung: Das sind wichtige Eigenschaften im Verhältnis zwischen Künstlerinnen und den Druckwerkstätten ihrer Wahl. Sie schaffen Raum für das Spielerische, das Experiment und die Improvisation. Es geht dabei nicht allein um die Produktion von grafischen Serien. Sondern mehr noch um das Ausschöpfen der ästhetischen Möglichkeiten, die die Drucktechniken bieten können. Die gemeinsame Lust am Ausprobieren ist dabei ein wertvolles Kapital. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren schon arbeitet die Schweizer Malerin Vera Rothamel mit der Kunstwerkstatt von Thomi Wolfensberger in Zürich zusammen. Manchmal schickt sie nach einem Arbeitstag in der Druckwerkstatt kleine Textnachrichten an Freundinnen: Glücksmomente! Endorphin-Ausschüttung! Die Möglichkeiten der Improvisation aber wollen geplant sein, die Zeit in der Lithografiewerkstatt muss gut genutzt werden. Für ihre jüngste grafische Edition „Fluid“ hat Vera Rothamel deshalb zuerst fünf verschiedenen Formen entwickelt, Flächen, Netz- und Gitterstrukturen, die sie als Module in wechselnden Zusammenstellungen nutzen will. Aus ihrem Atelier bringt sie sie auf Folien in die Druckwerkstatt, dort werden sie auf je eine Platte belichtet. Die erste Form wird gedruckt auf eine bestimmte Anzahl von Blättern, in einer Farbe, die nächste Form folgt auf einem Teil der schon bedruckten Blätter, teils auf neuen. Manche Papiere werden zweimal in die Maschine eingelegt, Formen gedreht und gespiegelt. Sind alle Formen in einer ersten Farbe, Cyan beispielsweise, gedruckt, folgt eine neue Farbe, wie Ultramarin, türkisblau, Pink oder Weissrosa jeweils für einen Teil. Die Überschneidung der Formen und die Schichtung der Farben, ihre Durchlässigkeit in den zeichnerischen Strukturen verändert sich von Blatt zu Blatt. Dann muss die Künstlerin Entscheidungen fällen, welche Blätter weiter bearbeitet werden, welche schon als fertig gelten, welche eine Weile Pause brauchen. Die Dichte der Farben nimmt zu, aber nicht alle Blätter gleiten gleich oft durch die Maschine. Aus einem Satz von Vorgaben fächern sich so immer mehr Varianten heraus, so dass jede Grafik zu einem Unikat wird. Manchmal verkehrt sich die Spannung zwischen dem Hervortretenden und dem Zurückweichenden, als ob ein Gegenstand plötzlich in das Blitzlicht eines Gewitters getaucht sei. Dieser Herstellungsprozess ist ein Wechselspiel zwischen dem Nichtvorhersehbaren in dem Übereinander von Formen und Farben und der Kontrolle. Die Künstlerin ist dabei auch als aufmerksame Beobachterin gefordert, die das eigene Werk immer wieder aus der Distanz betrachtet. Sie hat die Spielfiguren geliefert, aber schickt sie nun durch alle möglichen Formen der Begegnungen. Es werden mehr Blätter gedruckt, als die Edition am Ende enthält. Die Auswahl, was bleibt und was nicht, ist ein letzter Schritt. Kann man mehrere der 32 Werke, die insgesamt zur Edition gehören, nacheinander oder nebeneinander betrachten, erzählen sie vom Prozess ihres Werdens, von Transformation und Veränderung. Aus den Flächen entstehen räumliche Anmutungen, teils als würde der Blick über Wasser und Spiegelungen gleiten, teils türmen sich Massen hoch auf, teils weht der Atem des frühen Tages durch offene Strukturen. Verblüffende Tiefen entstehen, dann wieder schließt sich eine Fläche. Die Assoziationen zu Vorgängen in der Natur und der Landschaft, der Wechsel von Licht und Temperaturen, das Wuchern von Dickichten oder die Brüchigkeit einer Fläche sind in „Fluid“ so gegenwärtig wie oft in den Arbeiten der Malerin Vera Rothamel. Manchmal bezieht sie vegetabile Strukturen ein; aber auch dort, wo das nicht geschieht, ist der Puls des Werdens und Vergehens im Bildgeschehen vorstellbar. Und so, wie bei der Pflege eines Gartens längst nicht alles kontrollier- und steuerbar ist, sorgt der Prozess in der Druckwerkstatt für ein Überschreiten des Planbaren und für visuelle Überraschungen. Gerade das empfindet Vera Rothamel als das besonders Lustvolle an der lithografischen Arbeit.
Eine wichtige Rolle im Lesen der Blätter spielt die Wiederholung, das Wiedererkennen der Motive in den Varianten. Denn damit spielt „Fluid“ eben auch auf den Fluss der Zeit ein. Manchmal denkt man dabei an den Wechsel der Tageszeiten, manchmal der Jahreszeiten, die die Ansicht eines Motivs verändern; und wenn dann eine der vertrauten Formen nicht mehr im Spiel ist, verschwunden oder zerfallen, treten auch naturgeschichtliche Erosions- oder historische Zerfallsprozesse in den Gedankenraum ein, den „Fluid“ eröffnen kann. Dieses Bilden von Narrationen, diese Drift, die sich beim Gleiten des Blicks von Blatt zu Blatt, im Betrachtenden entwickeln kann, ist ein weiteres flüssiges Element: „Fluid“. Katrin Bettina Müller