Vera Rothamel

Pinsel, Stein, Papier.

Viola Meyer, Galerie Grashey, Konstanz, 14.11.2017

Schere, Stein, Papier – auch Schnick, Schnack, Schnuck genannt – ist ein weltweit verbreitetes Spiel, das sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen sehr beliebt ist. Jeder der Kontrahenten entscheidet sich gleichzeitig für ein Symbol, welches mit der Hand dargestellt wird. Da jedes Symbol gegen eines der anderen gewinnen und gegen ein anderes verlieren kann, ist der Spielausgang ungewiss. Doch bei uns heißt das Spiel und damit auch der Titel der aktuellen Ausstellung anders: Herzlich Willkommen liebe Ursula, liebe Vera, liebe Freundinnen und Freunde der Galerie Grashey: Wir spielen heute Pinsel, Stein, Papier.

Doch bevor wir mit dem Spiel beginnen, sollten die Spielregeln klar bekannt sein: Allgemein schlägt die Schere das Papier, das Papier den Stein und der Stein die Schere. Aber Vera Rothamels Spiel verläuft anders. Pinsel, Stein und Papier sind allesamt Werkzeuge der Künstlerin. In ihren Arbeiten geht es nicht darum, dass eines der Symbole ein anderes schlägt. Vielmehr werden diese kombiniert und ergänzen und bedingen sich dadurch gegenseitig. Die einzelnen Werkzeuge und damit einhergehenden Techniken werden nicht separat, sondern neben- und übereinander verwendet, was zu den für die Künstlerin typischen Farbschichtungen und Ebenen führt. Neben dem besagten Werkzeug Pinsel, dienen ihr auch Rakel und Walze als Hilfsmittel. Schablonen oder Lochstoff gelangen ebenso zum Einsatz wie Sprayfarbe. Die Konsistenz der Öltempera-Farbe auf ihren Gemälden ermöglicht auf den Bildträgern dichte und wässrige Stellen mit sich vermischenden oder lasierend wirkenden Farben. Mit Gummispachtel und Rakel wischt die Künstlerin beispielsweise über die Bildoberfläche, darüber kann sie dann Rollstempel und Tapeten- oder Gummiwalzen mit eingedruckten Mustern ziehen. Übermalungen sorgen für ein Spiel zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen Wille und Zufall. Die Werkzeuge ermöglichen der Künstlerin etwas, was der alleinige Einsatz des Pinsels vielleicht nicht vermocht hätte. Wenn Sie denken: Wir sind doch im falschen Spiel? Vielleicht. Denn die verwendeten Arbeitsgeräte erinnern stark an die der Druckgraphik. Doch wie bereits erwähnt, geht es hier nicht um ein Ausbooten, sondern ein Ausloten. Um ein Ausloten des Mediums Malerei, das es ermöglicht, die Vorstellung, was Malerei ausmacht, zu überdenken und neu zu entdecken. Vera Rothamels Nähe zur Druckgraphik kommt nicht von ungefähr: Seit 1999 beschäftigt sich die Künstlerin mit der Lithographie, die einen wichtigen Teil ihrer Arbeit bildet und in der Steindruckerei Wolfensberger in Zürich umgesetzt wird. Malerei und Lithographie sind hier in der Galerie Grashey harmonisch nebeneinander platziert, vereint in ihren floral-organischen Mustern und den vorherrschenden Grüntönen kreieren sie in den Räumen ihre eigene Biosphäre. Durch ihre abwechselnde Hängung leiten die einzelnen Werke den Blick des Betrachters gezielt entlang der Wände. Hier sorgt ein Gemälde für eine Vielzahl an Sinnesreizen, dort eine Lithographie für anschließende Entspannung, oder umgekehrt. Dieses Spiel wiederholt sich; wird aber niemals langweilig.

Liebe Mitspieler, Sie sind in diesem Spiel als aktiver Betrachter gefordert. Denn Vera Rothamels Bilder laden zu einer Reise des Sehens ein. Sie müssen dazu bereit sein, sich auf die Bildsprache der Künstlerin einzulassen, nahe an die Malereien heranzutreten, um das Spiel von Form- und Farbveränderungen zu beobachten, das uns dazu inspiriert, weiterzudenken, unser Sehen zu reflektieren und über den Bilderrand hinaus zu schauen. Treten wir also vor die großformatigen Öltempera-Gemälde. In diesen Arbeiten kann man sich geradezu verlieren. An dieser Stelle möchte ich den Filmwissenschaftler Béla Balázs zitieren, der in seinem Buch Der Geist des Films, folgende Szene beschreibt:

"Einst lebte ein alter Maler, der ein herrliches Landschaftsbild schuf. [...] Dem Maler gefiel sein Bild so gut, daß ihn die Sehnsucht packte. Er ging in sein Bild hinein und folgte dem Pfad, den er selbst gemalt hatte. Er wanderte immer weiter in die Tiefe des Bildes, dann verschwand er hinter [einem] Berg und kam nie mehr zum Vorschein."

Aus dem Gegenüber von Subjekt und Objekt – Bildbetrachter und Bild – ist eine Verschmelzung beider geworden. Auch wenn Balázs in diesem Zusammenhang das Vermögen von Film beschreibt, zeigt die Erzählung eine recht anschauliche Allegorie von allzu großer Versunkenheit der Kunstbetrachtung. Auch Vera Rothamels Arbeiten möchten erlebt werden und ziehen den Betrachter in ihren Bann und in sie hinein. Das Gefühl des „Ins-Bild-Gehens“ können wir in ihren Öltempera-Arbeiten spüren. Diese erzeugen durch die sich in der Nahdistanz verflüchtigenden äußeren Grenzen der jeweiligen Bilder, den Eindruck eines ,Eingehülltseins’ in einen Sog von einzigartigem und leuchtendem Farbenreichtum, der geradezu paradiesisch anmutet – ein witziger Zufall, da wir uns auch gerade im Stadtteil Paradies befinden.
Mit der von Leon Battista Albertis geprägten Metapher des Offenen Fensters argumentierend, gleicht der Blick auf ein Bild dem durch ein offenes Fenster. Ein Gemälde kann dann als Ausschnitt einer Welt angesehen werden, das einen gerahmten Blick auf eine Realität bietet, die möglicherweise nicht auf das einzugrenzen ist, was das Bild zeigt. Der Blick ist nicht länger nur auf das Bild gerichtet, sondern er geht quasi durch es hindurch, und lässt somit die Flächigkeit des Bildes in Vergessenheit geraten.

Doch in welche Welt treten wir bei Vera Rothamel ein? Der Künstlerin geht es nicht um perfekte Nachahmung von Realität. Ihre Bilder befinden sich in einem Schwebezustand zwischen gegenständlicher und abstrakter Malerei. Daher verwundert es nicht, dass die Welt, mit der wir konfrontiert werden von derjenigen abweicht, die uns bekannt ist: wir sehen farbige Wirbel und Farbflächen. Mal müssen wir gitterartige Gebilde in zartem Rosa oder Gelb zur Seite schieben, um dahinter auf lebhafte Farbverläufe zu treffen. Aber dennoch scheinen wir in einen Dschungel geraten zu sein, der Vorstellungen evoziert, die wir mit bekannten Formen verbinden. Die Natur scheint hierfür den Formfundus zu liefern. Denn, riechen Sie nicht den Duft von Blüten und Früchten? Hören Sie nicht die Vögel über sich? Hier wird ein Fleck zum Blatt, eine diagonal übers Bild führende Linie zur Liane und ein etwas dicker aufgetragener Strich zum Ast, von dem wiederum tropische Blüten sprießen. Die gitterähnlichen Formen scheinen sich in Kletterefeu zu verwandeln und zwischen den intensiv grün leuchtenden Büschen, blitzt schillerndes orangefarbenes Sonnenlicht hindurch und taucht das ganze Geschehen in Licht- und Schattenspiele. Direkt nebeneinander platziert, scheinen sich die Farben an Leuchtkraft gegenseitig zu höchster Wirkung zu steigern. Die Farbe als zentrales Gestaltungselement in den Arbeiten Vera Rothamels scheint hier eine Brücke über die Welt zwischen Verstand und Gefühl zu bilden. Aber je länger wir die Formen betrachten, desto mehr verflüchtigen sie sich wieder ins Ungegenständliche: Die Bilder werden zu einem Schauplatz des Suchens und Findens, der Entdeckungen und Verwerfungen. Denn die Bilder der Künstlerin stehen nicht still, sie sind nicht statisch, sondern lassen Momente des Prozesshaften zu. Das Bildgeschehen ist von kreativer Dynamik erfasst, die die Bilder allerdings nie in ihrer Harmonie in Farbe und Komposition mindert. Wir können nicht sprichwörtlich das Gras wachsen hören, aber wir scheinen zu sehen, wie es wächst. „Die Naturmotive sprießen aus dem Humus von geschichteten Farbaufträgen“, wie es die Autorin und Kunstkritikerin Dominique von Burg treffend formulierte. Die abgebildeten Wachstumsprozesse dienen der Künstlerin als Metapher für das Malen selbst. Der Künstlerin geht es nicht um das „was“, sondern vielmehr um das „wie“. Das „wie“ des Entstehungsprozesses, aber auch das „wie“ des Sehens. Vera Rothamel begreift die Malerei als ein Werkzeug über sich, die Essenz der Kunst und die Welt etwas zu erfahren.

Die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und dem anschließenden Umsetzungsprozess wird auch in den hier ausgestellten Lithographien thematisiert. Auf all diesen Druckgraphiken sehen wir einen Tuscheläufer in verschiedenen Grüntönen. In gitterartiger Struktur breitet sich dieser Läufer auf sogenannten Irisdrucken aus, die typischerweise durch ineinander verlaufende Farbränder gekennzeichnet sind. Der Läufer scheint immer gleich zu sein, doch mal ist er vereinzelt, mal gespiegelt, mal verdoppelt. Die Künstlerin spielt mit den einzelnen Komponenten, die Komponenten selbst aber auch frei miteinander. Durch die Glasrahmung kann der Betrachter sich gespiegelt sehen und sich mitten im Zusammenspiel mit den flächigen und den zeichnerischen Elementen wiederfinden. Daher scheint der Titel, den die Künstlerin dieser Werkreihe gibt, nur allzu treffend: Spiel Satz. Auch bei dem Steindruckverfahren werden passend zum Ausstellungstitel mehrere Werkzeuge verwendet: auf dem Lithographiestein kann gezeichnet, gemalt oder auf andere Weise Kreide oder Tusche aufgetragen werden. Was auf dem Stein fixiert ist, kann dann in beliebigen Farben gedruckt werden. Während des Druckprozesses kann experimentiert werden, indem beispielsweise Papier in verschiedenen Richtungen in die Druckmaschine gelegt wird, was dann zu individuellen Unikaten führt. Wie bei dem Spiel Schnick, Schnack, Schnuck ist auch hier der Spielausgang ungewiss, denn beim Drucken weiß man nicht, was sich letztlich für Farbkombinationen ergeben. Dennoch setzt die Arbeit einen sehr analytischen Denk- und Handlungsprozess voraus, denn jeder Schritt muss hinsichtlich seiner Positionierung und potentieller Wirkung gut durchdacht sein. Ähnlich wie ein Tonsatz, der innerhalb der Musiktheorie ein handwerklicher Aspekt von Komposition und Arrangement in mehrstimmigen Werken darstellt, scheint die Anordnung der einzelnen Komponenten essentiell zu sein: sie ergeben die Harmonie. Der Ton macht die Musik, die Drucksätze das Spiel.

Dennoch – da es sich bei dem Titel Spiel Satz um zwei getrennte Worte handelt, wirkt der Titel der Werkreihe doch wie eine Aufforderung. Also: lassen Sie uns eine Runde Pinsel, Stein, Papier spielen. Aber bitte schummeln Sie nicht und seien Sie im Falle, dass Sie geschlagen werden, nicht enttäuscht. Denn Sie können heute hier in den Galerieräumen, umgeben von den inspirierenden Arbeiten der Künstlerin, nur gewinnen.